"Sharia oder Grundgesetz?" – Warum Muslime sich nicht entscheiden müssen



In der öffentlichen Debatte in Deutschland wird Muslimen häufig eine zugespitzte Frage gestellt: „Stehst du zum Grundgesetz oder zur Sharia?“ Diese Forderung, sich zwischen zwei Identitäten entscheiden zu müssen, ist nicht nur unberechtigt, sondern widerspricht auch den Grundlagen der deutschen Verfassung.

Kein Bekenntnis notwendig – nur Gesetzestreue

Das deutsche Recht verlangt kein „Bekenntnis“ zu einem Gesetz. Kein Bürger muss sich offiziell zum Grundgesetz oder zu anderen Gesetzen bekennen. Es genügt, dass man sich an die geltenden Gesetze hält. Ein Beispiel: Wer seine Steuern pünktlich zahlt, darf dennoch öffentlich Kritik am Steuersystem üben – das ist durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Selbst gegenüber dem Grundgesetz ist Kritik erlaubt.

Tatsächlich richtet sich das Grundgesetz in weiten Teilen nicht an Bürger, sondern an staatliche Institutionen. Es legt fest, wie das Parlament gebildet wird, wie Gewaltenteilung funktioniert und welche Rechte der Staat den Bürgern nicht nehmen darf. Diese Regeln sind für Staatsorgane verpflichtend – nicht für Privatpersonen. Ein Zahnarzt oder Ladenbesitzer kann sich schwerlich an Vorschriften zur Bundestagseinberufung halten, weil sie ihn schlicht nicht betreffen.

Die künstliche Gegenüberstellung

Die Gegenüberstellung von „Sharia oder Grundgesetz“ ist eine künstliche Debatte. Sie erzeugt den Eindruck, als stünde der Islam im Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung. In Wirklichkeit garantiert das Grundgesetz ausdrücklich die Religionsfreiheit und schützt das Recht auf eine eigene kulturelle und religiöse Identität – auch die islamische.

Die Forderung nach einer Werteentscheidung stellt Muslime unter Generalverdacht und drängt sie in eine Verteidigungsposition. Sie basiert auf der Annahme, dass eine islamische Lebensweise automatisch ein Problem für das gesellschaftliche Miteinander darstellt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Wer in Deutschland lebt und die Gesetze achtet, ist unabhängig von seiner Weltanschauung ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft.

Fazit

Muslime müssen sich nicht zwischen dem Islam und dem Grundgesetz entscheiden. Die Einhaltung der Gesetze ist vollkommen ausreichend – so wie bei jedem anderen Bürger auch. Der Versuch, Menschen mit religiöser Überzeugung zu einer ideologischen Entscheidung zu zwingen, widerspricht dem Geist der Verfassung, die Vielfalt schützt und Meinungsfreiheit garantiert. Es ist an der Zeit, die Debatte von symbolischen Loyalitätsforderungen zu befreien und stattdessen auf das zu schauen, was tatsächlich zählt: das friedliche Zusammenleben auf Grundlage von Recht und gegenseitigem Respekt.